IOS-NEWSLETTER
Forschung, Veranstaltungen, Publikationen
Seminarreihe des Arbeitsbereichs Ökonomie am IOS
Zeit: Dienstag, 13.30–15.00 Uhr
Ort: Leibniz-Institut für Ost-und Südosteuropaforschung (IOS); vorerst online via Zoom, Anmeldung.
Programm
Forschungslabor: „Geschichte und Sozialanthropologie Südost‐ und Osteuropas“
Zeit: Donnerstag, 14–16 Uhr (Lehrstuhl) oder 16–18 Uhr (Graduiertenschule und Leibniz-WissenschaftsCampus)
Ort: WiOS, Landshuter Str. 4 (Raum 017)
Programm
Staatlichkeit und Industrie im post-sozialistischen Europa: Der Einfluss der staatlichen Hand auf die Organisationsgeschichte zweier Werften in Transformation
Projektverantwortlicher: Peter Wegenschimmel
Laufzeit: 2016-2019
Staatsunternehmen im neoliberalen Osteuropa, Nationalisierung großer Industriebereiche nach den Erfahrungen des Sozialismus, Rückkehr zu Formen der Selbstverwaltung nach zwanzig Jahren? Das Projekt „Staatlichkeit und Industrie im post-sozialistischen Europa“ präsentiert ein Bild der posttransformativen Industrie Kroatiens und Polens, das geprägt ist von Paradoxien, Pfadabhängigkeiten und subversiven ArbeiterInnenprotesten.
Man könnte die Instrumentalisierung staatlicher Unternehmensbeteiligung während der marktwirtschaftlichen Transformationen in Ost- und Südosteuropa als eine Art Gegenrevolution beschreiben. Trotz der Dezentralisierungs- und Selbstverwaltungsgesten während der Transformationen blieb der ehemals sozialistische Staat seiner interventionistischen, geradezu prometheischen Tradition treu, indem er versuchte Kapitalismus „from the top“ zu etablieren (Ekiert, 2003). Die Folge war ein mit der Arbeitnehmerschaft schlecht ausverhandelter Privatisierungsprozess einerseits und das Fortbestehen einer staatlichen Lenkung innerhalb der industriellen Großbetriebe anderseits. Das Projekt untersucht die Institutionalisierung neuer Formen der Staatlichkeit in der Industrie als Kehrseite, Epiphänomen und Prämisse der neoliberalen Hegemonie (Ther, 2015) und als Phänomen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (von Puttkamer, 2012).
Die real existierenden Transformationen haben im selben Maße zur Destabilisierung öffentlich gelenkter Wirtschaftsorganisationen wie zu ihrer Reinstitutionalisierung beigetragen. Gerade der Fall Kroatien veranschaulicht den ambivalenten Ausbau staatlich-ökonomischer Agentenschaft während der ersten Phase der Privatisierung, die mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Umwandlung gesellschaftlicher Unternehmen begann. Mit diesem Gesetz wurde aus einer Selbstverwaltungswirtschaft eine Marktwirtschaft. Die damit einhergehende Eigentumsökonomie führte allerdings auch dazu, dass achtzig Prozent des gesellschaftlichen Eigentums dem Staat zufielen, was als „schleppende Privatisierung“ (Dobias et al., 2000: S. 97) bezeichnet wurde. Wie schon die jugoslawischen Transformationen der 1980er mit ihrer Austeritätspolitik (Musić, 2016) führten die Transformationen um 1990 zu einer Zentralisierungs- und Verstaatlichungsbewegung (Woodward, 1995).
In Polen wurde zwar mit dem ersten von Finanzminister Leszek Balcerowicz erlassenen Gesetz zur Finanzwirtschaft der Staatsunternehmen tatsächlich ein „Primat der Ökonomie“ (Ther, 2015: S. 25) konstituiert, welches erstmals Finanzcontrolling, Zweifel an Soft Budget Constraints (Kornai, 1979, 1980) und damit Insolvenz exekutierbar machte. Eine faktische Kritik des ökonomischen Staates als solches war daran aber nicht unbedingt geknüpft.
So institutionalisierte sich sowohl in Polen als auch in Kroatien mit dem Staat als Unternehmenseigentümer ein Provisorium, dessen Absterben man vom ersten Tag seiner Einführung mediendiskursiv angezählt hatte (Wegenschimmel, 2016).
Research Design
Eine Theorie
Das Projekt zeichnet sich durch einen organisationsgeschichtlichen Zugang aus, welcher versucht, eine unternehmens- und arbeitsgeschichtliche Fragestellung mithilfe der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie zu beantworten. Mit diesem Fokus auf Legitimationsfragen hat sich die neoinstitutionalistische Organisationstheorie als besonders fruchtbar erwiesen in Untersuchungen heterogener wirtschaftlicher Organisationen mit ambigem Verhältnis zu ihrer Umwelt wie z. B. Non-Profit-Organisationen und öffentliche Unternehmen. Bilanzierter Erfolg und KPI sind dem Neoinstitutionalismus zufolge noch keine hinreichenden Bedingungen für das Fortbestehen eines Unternehmens.
Zwei Fälle
Zur Konstruktion dieser Unternehmensgeschichten wird neben makrowirtschaftlichem quantitativem Material jeweils eine Fallstudie industrieller Unternehmen aus Polen und aus Kroatien im Zeitraum 1980 bis zur Privatisierung bzw. Insolvenz untersucht. Gemäß einem theoretical sampling wurden zwei Schiffbau-Unternehmen ausgewählt, die auf eine lange und komplexe Trajektorie staatlichen Interventionismus zurückblicken. Die beiden Fallstudien setzen in der Phase des „späten Sozialismus“, der aktuell zu den dynamischen Feldern der Osteuropaforschung gehört (Boškovska et al., 2016), ein und reichen bis zur Institutionalisierung öffentlicher Unternehmen in Ost- und Südosteuropa nach dem Beitritt zur Europäischen Union. Beide Fallstudien kommen aus dem Schiffbau und repräsentieren damit einen industriepolitisch „strategischen“, und gedächtnispolitisch emblematischen Industriezweig.
Drei Ebenen
Als Multi-level-Analysis aufgestellt, verbindet die Arbeit die Unternehmensperspektive mit der Branchenebene und mit dem institutionellen Umfeld (Kommune, Staat) der ausgewählten öffentlichen Unternehmen. Zur Berücksichtigung der Agency, Einflussnahmen und Handlungsfelder sämtlicher Akteure aller drei Ebenen wird sowohl auf Unternehmens-, Branchen- und Staatsebene eine aussagekräftige Materialfülle herangezogen. Zur genaueren Analyse der Agency der Akteure der jeweiligen Ebene werden Interviews geführt, die das archivarische Quellenmaterial ergänzen.
Vier Analysekategorien
Durch eine Inhaltsanalyse wurden induktiv aus dem qualitativen Datenmaterial vier Kategorien ermittelt. Diese stellen die Grundlage dar für den Versuch der Generalisierung einer Unternehmensgeschichte zu einer Organisationsgeschichte unter Berücksichtigung des Einflusses der Variable „Staatseinfluss“.
- Transformationen des Legitimätsdiskurses
- Transformationen der staatlichen Aufsicht
- Transformationen der Grenzziehung zwischen Unternehmen und Staat
- Transformationen des Bargaining
Projektergebnisse
Vorträge
Socialist Bargaining: The Power Resource Approach in Socialist Economies, Symposium "Workers of the World: Exploring Global Perspectives on Labour from the 1950s to the Present" des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen an der Georg-August-Universität, Juni 2017
Counter-Revolutions during Post-Socialist Transformations: Insights Provided by an Organization-Based Approach, Workshop "Institutional Change in Political Economies and Varieties of Methods in Social Science Research on Postcommunism" der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien und des Instituts für Soziologie, LMU, Mai 2017
(mit Filipkowski P.) Perspektywa oddolna w badaniu historycznym – oczekiwania i rozczarowania, Konferenz „Historia stoczni gdańskiej”, Gdańsk, November 2016
Transformacja stosunków przemysłowych w stoczni gdyńskiej, XVI Ogólnopolski Zjazd Socjologiczny "Solidarność w czasach nieufności" im Panel "Socjologia Morska", Gdańsk, September 2016
Labour Relations after Tito: A Questionnaire for an Industrial Case Study under Transformation, Doktorska Radionica "Jugoslavenski socijalizam: sličnosti i posebnosti" der Sveučilište Jurja Dobrile u Puli Filozofski fakultet, Odsjek za povijest & Centar za kulturološka i povijesna istraživanja socijalizma, August 2016
The Impact of Transition on the Legitimization of Workers‘ Self-Management from a Comparative Perspective, Konferenz "Falling Behind and Catching Up: Southeast Europe and East Central Europe in Comparison" des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) und des Instituts für Osteuropäische Geschichte (IOG) der Universität Wien, Juni 2016